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AutorenbildSabine Patatzki

Unter meinem Himmel

Ein Novembermorgen mit herrlichstem Sonnenschein – für mich direkt die Einladung von ganz oben, den Tag draußen zu verbringen. Ich liebe den Wald ja zu jeder Jahreszeit, aber im Herbst finde ich ihn einfach besonders schön.


Gleich zu Anfang kann man sich ja meist erst einmal informieren, die Hinweisschilder geben Auskunft über mögliche Wanderrouten. Da gehe ich heute aber dran vorbei, denn ich habe mein Ziel schon im Kopf, ich weiß ganz genau, wo ich hin möchte.


Hier zu laufen ist einfach ein Genuss: Die Strecke führt an einem Fluss entlang, das Wasser plätschert heimelig friedlich, der Weg ist heute herrlich angenehm, nicht zu matschig, nicht zu trocken, nicht zu steil – es wäre auch ein perfekter Tag für einen Ausflug mit Familie oder Freunden. Unter dem geschützten Blätterdach gibt es auch immer mal wieder Bänke zum Rasten und für eine gemeinsame Jause. Aber heute bin ich alleine und gehe auch daran vorbei, denn ich weiß ganz genau, wo ich hin möchte.


Auf dem Trimm-Dich-Pfad kann man sich ein wenig austoben und Energie ablassen, macht den Kopf frei und den Körper fit. Zur Belohnung gibt es direkt im Anschluss einen riesigen Kastanienbaum, der nicht nur majestätisch aussieht, sondern auch schon ganz viele Kastanien abgeworfen hat. Ich kann gar nicht so viele sammeln, wie da auf dem Boden in Hülle und Fülle vor mir liegen, die Natur in allerbester Üppigkeit. Womit habe ich das verdient, nur weil ich hier des Weges komme, werde ich so reichlich beschenkt? Ein paar nehme ich gerne mit, aber ich gehe weiter, denn ich weiß ganz genau, wo ich hin möchte.


Hinter dem Kastanienbaum kommt ziemlich felsiges Gelände, der Weg wird recht eng, man muss genau achtgeben, und große Vegetation gibt es hier auch nicht, aber ausweichen auf eine andere Route kann ich nicht – denn es gibt keine Alternative, das muss ich akzeptieren. Etwas später kann ich am Himmel einen schönen Heißluftballon entdecken. Wie klein die Welt doch ist, wird der Fahrer sich sicherlich denken. Dem Himmel so nah, denke ich! Aber ich gehe weiter, denn ich weiß ganz genau, wo ich hin möchte, und bis dahin ist es noch ein Stück.


Und dieses Stück ist ein Teil des Weges, den ich eigentlich gar nicht gerne gehe. Hier stehen keine rauschenden Laubbäume, die mir ein Dach bieten, sondern hohe, schmale, unheimlich wirkende Gewächse, die mit ihren Nadeln ziemlich unangenehm pieksen. Hier kommt auch kaum Sonne hin, man fühlt sich gar nicht richtig wohl und würde hier am liebsten einfach nur schnell durchrauschen. Es riecht modrig wie im Keller, und überall liegt ziemlich viel Unrat, sogar Plastikmüll, welcher niemals von alleine verwittern wird. Hier braucht man schon eine Zange und einen großen Eimer, um das alles wirklich zu entfernen. Auch ein paar Glasscherben sehe ich, es sind Überreste eines Spiegels. Notiz an mich: Wieso habe ich mich noch nicht richtig darum gekümmert? Diese Deponie gehört beseitigt …


Mein heutiges Ziel habe ich jetzt bereits vor Augen. Denn jetzt kommt eine kleine Lichtung. Es wundert mich jedes Mal, wie unberührt das hier ist. Wie kann es nur sein, dass noch niemand sonst dieses Plätzchen entdeckt hat? Als wäre dieser Ort nur für mich da. Die Sonne kommt von oben herrlich durch und scheint auf die Bank unter „meinem“ Baum, der mir sofort wieder das schützende Dach bietet, und trotzdem die Sonnenstrahlen auf mein Gesicht durchlässt. Augenblicklich stellt sich Frieden ein. Nirgends sonst auf der Welt möchte ich gerade sein.


Betrachte ich meinen Baum, stelle ich fest, dass die Jahrhunderte auch nicht ganz spurlos an ihm vorbeigegangen sind. Diverse Verletzungen haben tiefe Kerben in die Rinde geschlagen, und auch manche Äste, die über lange Zeit mitgewachsen waren, mussten irgendwann doch geschnitten werden, sonst hätte er als Gesamtheit nicht überlebt, so bitter es ist. Und da an dieser Stelle hier noch nie jemand anderes war als ich, ist es meine Verantwortung, die Kerben zu pflegen und die Äste zu beschneiden, damit mein Baum leben kann. Opfer müssen gebracht werden, wenn klar ist, dass es keine andere Möglichkeit gibt.


Die Wurzeln jedenfalls sind stabil und liegen in gesundem Boden. Hier gibt es keinen modrigen Geruch, obwohl mir hier Endlichkeit und auch Unendlichkeit zugleich so deutlich gezeigt wird, wie sonst nirgendwo auf der Welt. Wie wichtig es ist, den Weg bis hierher wirklich und endgültig von all dem Unrat zu befreien, wird einmal mehr klar.


So oft habe ich hier schon gesessen, bei gutem Wetter aber auch bei schwieriger Witterung habe ich mich unzählige Male auf den Weg gemacht. Ich wusste immer, wo ich hin möchte. Und was sonst könnte ich sagen: Die Sonne scheint hier besonders warm und mild. Ich könnte hier - unter meinem Himmel - einfach ewig sitzen, denn obwohl ich alleine bin, spüre ich hier, am einsamsten und abgelegensten Ort der Welt, die Kraft, aus der alles kommt – angekommen an der Quelle.


Ich wünsche Euch einen wundervollen Tag, im wahrsten Sinne des Wortes, und alles Liebe!


Eure Sabine

Musikbeitrag: Eric Clapton - "Change the world" (with lyrics)

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