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AutorenbildSabine Patatzki

The storyteller

Schon interessant, der rückläufige Merkur steht kurz bevor, und schon heute werden bei mir längst in die Jahre gekommene Geschichten in Erinnerung gerufen. Zum Beispiel mit einem literarischen Rückblick in die alten Englischbücher: Stand damals mal wieder eine neue Lektion an, wurde erstmal mit verteilten Rollen der zugehörige Dialog gelesen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Vorweg gab es immer die Rolle des „storyteller“, der eine Situation erklärend einleitete, aber auch zwischen den gesprochenen Passagen die Handlung beschrieb. Ich war immer gerne dieser storyteller, die lebendige Verbindung zwischen den Zeilen.


Geschichten gelesen habe ich seitdem über die Jahre reichlich. Oft blieb aber geistig vieles an der Oberfläche, und ich hatte danach noch mehr Fragen als zuvor. Also war da immer die Sehnsucht nach der einen, der wahrhaftigen Quelle, die tiefgründig und echt ist, wenngleich auch – als ich sie endlich gefunden hatte – Antworten auf Fragen kamen, von denen ich vorher noch nicht mal wusste, dass ich sie überhaupt hatte. Und so manche Antwort war ein ziemlich schwer verdaulicher Stein. Wahrheit wiegt oft schwer, da bedarf es Stärke zu entwickeln, dabei zu bleiben, obwohl man sich eigentlich schwach und klein fühlt.


Geschichten geschrieben habe ich in der Zwischenzeit auch ziemlich viele. Nicht immer jedoch ist die Verbindung zwischen den Zeilen lebendig geblieben, im Lauf der Zeit ist sogar genau deswegen so manche Bande zu Ende gegangen, aber auch das gehört eben zum „storyteller“ dazu: So eine Geschichte besteht halt in der Regel aus einzelnen Kapiteln, die nun mal irgendwann enden müssen, sonst gibt es keine Entwicklung, und man wird niemals wissen, wie es ausgeht. Auch hier gilt: ohne geistige Stärke und die Konzentration auf das Wesentliche ist das sehr schwer auszuhalten. Je weiter man kommt, desto weniger Weggefährten von einst bleiben an unserer Seite.


Und dann gibt es schließlich noch diese eine Geschichte, die wir selbst jeden Tag neu schreiben, unsere eigene nämlich. Keineswegs sind wir als Buch mit leeren Seiten auf diese Welt gekommen. Einzelne Kapitel gefallen uns heute vielleicht nicht mehr so gut. Damals, als wir sie geschrieben haben, haben wir uns fatalerweise keine großen Gedanken über die Konsequenzen gemacht oder einfach den für uns bequemsten Satzbau gewählt. Dann haben wir umgeblättert, ein neues Kapitel aufgeschlagen und uns gewundert, warum man sich plötzlich nicht mehr auf der bunten Blumenwiese wiederfindet, sondern an einem Ort, an dem es sich so ganz und gar nicht mehr bequem anfühlt. Im Nachhinein können wir dies nur verstehen, wenn wir auch diese früheren Kapitel einmal im Rückblick betrachten, denn diese sind maßgebend für die insgesamte Handlung unseres Buches und haben wesentlich dazu beigetragen zu der einen Seite, zu der einen Zeile, an der wir uns hier und jetzt gerade befinden.


Unser Buch begleitet uns also schon ziemlich lange durch unsere gesamte Existenzgeschichte. Und da gibt es eben diese Seiten, die schon gefüllt sind: Hier können wir den Text nicht einfach ausradieren, ebenso wenig können wir einzelne Seiten herausreißen. Jedes kleine Detail gehört dazu, schwarz auf weiß, und ist untrennbar mit uns verbunden. Im Heute liegt das Seidenbändchen als Lesezeichen eingebettet auf der aktuellen Seite. Vor uns liegen jedoch weiße, noch gänzlich unbeschriebene Seiten. Wir können jetzt damit anfangen, genau JETZT, diese auf die bestmögliche Art zu beschreiben, damit irgendwann der storyteller im letzten Kapitel hoffentlich davon berichten wird, wie wir uns alle wieder auf der bunten Blumenwiese begegnen werden.


Alles Liebe, Eure Sabine

Musikbeitrag: Peter Gabriel - "Book of love" (with lyrics)

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