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AutorenbildSabine Patatzki

Aeronauten

Stellen wir uns vor, wir stehen eines morgens auf, so wie eigentlich jeden Morgen. Alles ganz normal, wie immer. Erstmal einen Kaffee, während die Welt draußen schon grell und laut kreischt, und dann schauen, was heute so anliegt, bevor alles wieder in Hektik und Stress verfällt. Da fällt uns auf, dass neben der Kaffeemaschine ein Umschlag mit unserem Namen liegt. Ein bisschen vergilbt das Papier … So wie‘s aussieht, liegt der da ganz sicher nicht erst seit gestern. Warum ist uns der Umschlag vorher noch nicht aufgefallen? Oder wollten wir ihn nicht sehen, weil wir uns schlichtweg nicht getraut haben?


O.k., es steht also auf dem Umschlag unser Name drauf. Er ist für uns bestimmt, für sonst niemanden auf der Welt. Jetzt packt uns die Neugier. Heute, also HEUTE ist der Tag, da wird dieser Umschlag geöffnet! Innen befindet sich ein Stück Papier, ein Ticket: Ein Ticket für eine Fahrt mit dem Heißluftballon. Wussten Sie eigentlich, dass Luftfahrer auch Aeronauten genannt werden? Klingt doch irgendwie nach einem Abenteuer, oder?


Das Ticket für diese Heißluftballonfahrt haben wir schon vor langer, sehr langer Zeit gelöst. Geld haben wir dafür allerdings nicht bezahlt, der Preis wurde nicht in Münzen aufgerufen. O.k., also heute – HEUTE ist der Tag – und wir machen uns auf den Weg zu der Wiese, wo der Heißluftballon schon auf uns wartet!


Am Ort des Geschehens angekommen, werden wir doch etwas nervös und ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Sicherheitsbedacht wie wir sind, checken wir vorsichtshalber lieber noch einmal selbst unsere Wetter-Apps bezüglich UV-Index, Regenradar und Thermik. Schließlich haben wir alles im Leben am liebsten selbst in der Hand, und es fällt nicht leicht, Kontrolle abzugeben. Aber heute, HEUTE ist der Tag, da stimmt alles, und wir sind bereit! An dieser Stelle müssen wir das Ticket vorzeigen und stellen fest: es ist wenig Platz im Korb. So mancher unserer bisherigen Weggefährten will uns aber auch gar nicht begleiten, diese lassen wir zurück.


Es ist tatsächlich aufregend und abenteuerlich, als mit einem langen, lauten Zischen der Gasbrenner aktiviert wird. Und im nächsten Moment schon, da hebt der Ballon ab und im wahrsten Sinne des Wortes verlieren wir die Bodenhaftung. Um noch höher zu steigen, muss Ballast abgeworfen werden. Alle unsere schlechten Eigenschaften, was uns im negativsten Sinne bindet und ohnmächtig macht, müssen wir loslassen und uns zum Guten wandeln, damit es in die Leichtigkeit kommt. Ziemlich unbequem, diese Aufgabe. Verdammt, warum sind wir nicht am Küchentisch sitzengeblieben und haben unseren Kaffee weitergetrunken? Das wäre um einiges einfacher gewesen, in dieser grellen, lauten, kreischenden Welt.


Aber wir haben uns jetzt zu dieser Fahrt entschieden. Aussteigen ist keine Option mehr. Es gilt durchzuhalten. Je höher wir steigen, desto mehr werden wir belohnt, mit einem traumhaften Ausblick über die Landschaft. Häuser werden zu Legosteinchen, Schafe verschwimmen zu weißen Pünktchen auf der Weide. Von oben sehen wir das große Ganze, bis ganz hinten zum Horizont. Und fast könnte man meinen, die Sonne scheint heute ganz besonders hell und warm, wie wir sie vorher noch nie wahrgenommen haben – schließlich sind wir ihr hier auch besonders nahe. Was auch auffällt: es ist still, so unglaublich still. Man fährt mit dem Wind, so dass man noch nicht einmal Fahrgeräusche hört. Dafür hören wir etwas anderes hier ganz besonders gut: nämlich unsere innere Stimme.


Wussten Sie eigentlich, dass man bei einer Ballonfahrt nie wirklich genau das Ziel festlegen kann? Es kann sein, dass man 30 km zurücklegt, genauso gut jedoch ist es möglich, dass man sogar 150 km weit kommt. Warum? Weil dies abhängig ist vom Wind. Und spätestens heute, also HEUTE begreifen wir, dass wir hier oben die Zügel aus der Hand gegeben haben und himmlische Mächte am Werk sind. Das wiederum ist eine harte Nuss für uns, die wir doch eigentlich immer alles unter Kontrolle haben wollen. Die Antwort heißt Vertrauen, bedingungsloses Vertrauen, dass wir uns in besten Händen befinden. Und heute, ja HEUTE ist der Tag da verstehen wir: Vertrauen, Ur-Vertrauen ist die Basis für Liebe. Uns kann nicht nur nichts geschehen, sondern wir werden auch liebevoll geführt, wenn wir nur loslassen. Ein richtig gutes Gefühl ist das!


Und so langsam nähert sich unsere Fahrt nun dem Ende, der Ballon sinkt gemächlich zur Erde, und mit jedem Meter, den wir zurücklegen, kommen immer mehr Details wieder zum Vorschein. Aus den Legoklötzchen werden wieder Fachwerkhäuser, und die weißen Pünktchen springen tatsächlich umher. Mit einem Ruckeln kommen wir etwas unsanft wieder auf dem Boden auf. Die Erde hat uns wieder. Alles kommt uns etwas unwirklich vor, ist das alles gerade tatsächlich passiert?


Die Fahrt ist freilich noch nicht ganz vorbei, denn es gibt da so eine Regel, die besagt: nach einer ersten Fahrt mit einem Heißluftballon wird man feierlich „getauft“ und somit offiziell in die Ballonfahrergilde aufgenommen. Was für ein Abenteuer, diese Fahrt wird wahrlich unvergesslich bleiben! Den Kaffeetisch in der grellen, kreischenden Welt, sehen wir jetzt mit ganz anderen Augen. Denn heute, ja HEUTE ist der Tag, da sind wir zu Aeronauten geworden. Und das Beste ist: unser Ticket hat kein Verfallsdatum, denn der Himmel hat seine eigene Währung. Wir können es jederzeit wieder nutzen, selbst wenn es irgendwann noch so speckig und abgewetzt sein wird. Sehnsucht macht sich breit – und ich wünsche allzeit gute Fahrt auf der großen Reise, die sich Leben nennt!


Alles Liebe, Eure Sabine

Musikbeitrag: Belinda Carlisle "Heaven is a place on earth" (with lyrics)

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